Abnehmspritze – Was bleibt vom Hype?

Der folgende Text stammt von Julia Brunhofer für die ORF Nachlese März 2024.

Wie sieht der Therapieerfolg aus? Welche Risiken sind zu beachten? Und welcher Einfluss zeigt sich auf Gesundheit und Gesellschaft? Eine erste Bilanz.

Im „gesunden Gespräch“: Yvonne Winhofer, Emilia Jändling, Siegfried Meryn und Birgit Lötsch.

Schnelles Abnehmen wie von Zauberhand: Seit Prominente wie Robbie Williams oder Kim Kardashian zeigten, wie man in kürzester Zeit durch die Verabreichung einer Spritze erhebliche Gewichtsverluste erzielt, entstand im Vorjahr um Medikamente wie „Ozempic” oder „Wegovy“ ein regelrechter Hype. Hauptwirkstoffdieser Arzneien ist Sernaglutid, dass schneller satt macht, den Insulinspiegel reguliert und so hilft, Heißhungerattacken zu vermeiden. Doch der seither verstärkte „Off-Label-Use*, also nicht bestimmungsgemäße Gebrauch löste etliche Kontroversen aus.

„Für wen wurde das Medikament eigentlich entwickelt und wie wirkt es?“, eröffnet Meryn das „gesunde Gespräch“.
Winhofer: „Die Wirkstoffe sind einem dem Körper eigenen Hormon nachgebaut, das in einer gewissen Dosierung die Insulinausschüttung und -nachbildung fördert und deshalb auch bei Diabetes zum Einsatz kommt. In sehr hohen Konzentrationen wirkt es auch als Sättigungshormon. Das ist ein normaler Mechanismus, der aber insofern wichtig ist, weil gerade, wenn wir abnehmen, unsere Sättigungshormone abfallen. Dem können wir jetzt gegenwirken.“

Meryn hakt nach: „Wenn ich beginne abzunehmen, egal wie, passiert was mit meinen Sättigungshormonen?“
Winhofer: „Unser Körper gibt ungern was her. Sobald wir 1-2 Kilos abnehmen, kommt die Gegenregulation. Das heißt, die Sättigungshormone fallen ab, wir werden nicht so gut satt, haben mehr Hunger und werden träge, weil der Körper auch den Energieumsatz zurückschraubt. Mit dieser Spritze haben wir jetzt die Möglichkeit, dieser Gegenregulation entgegenzuwirken, indem wir die Sättigungshormone hinaufregulieren.“

Meryn: „Welches sind potenzielle Nebenwirkungen?“
Winhofer: „Es wird mehr Insulin ausgeschüttet, der Zucker geht hinunter, deshalb wurde es auch für Diabetes entwickelt. Eben das Sättigungsgefühl bleibt stabil und die Magenentleerung wird etwas verzögert, wodurch der Körper sozusagen längere Zeit etwas von einer Portion hat. Und wir verändern unser Denken, denken nicht mehr so viel über das Essen nach. Es gibt auch sehr gute Studien, dass sich unsere Essenspräferenz ändert. Wir essen eher Dinge, die weniger Kalorien haben. Dementsprechend sind die Nebenwirkungen: Wenn ich zu viel erwische, kann es zu Übelkeit, Aufstoßen und Verdauungsproblemen kommen.“

Meryn: „Frau Jändling, ich danke Ihnen, dass Sie Ihre Geschichte mit uns teilen.“
Jändling: „Ich kam mit zwölf Jahren aus Rumänien nach Österreich, dort hatte ich eine ganz andere Ernährung. Wir waren hauptsächlich vegetarisch versorgt und hatten viel Bewegung. In Österreich war alles anders, ich konnte die Sprache nicht, hatte keine Freunde und kam nach ein paar Monaten schon auf 100 Kilo. Mit 16 habe ich das erste Mal versucht abzunehmen, indem ich Kalorien reduziert habe. Damit habe ich in sechs Monaten 25 Kilo abgenommen, war glücklich, habe wieder zu essen begonnen und hatte die 25 Kilo in sechs Monaten wieder zugenommen. Mit 20 habe ich es wieder versucht, langsamer, habe die Ernährung umgestellt und meine 72–74 Kilo auch gehalten. Wenn man weniger wiegt, hat man einfach mehr Freude am Alltag. Nach meiner ersten Schwangerschaft habe ich wieder zugenommen und hier war der Punkt, an dem die Reduktion der Kalorien nicht mehr so klappte. Damals habe ich das Abnehmen immer allein gemacht. Ich wusste nicht einmal, dass man sich medizinische Hilfe holen kann. Wenn man zum Arzt ging, hieß es meist: Essen Sie weniger und nehmen Sie ab.“ Meryn: „Das höre ich so oft von Patienten. in Österreich kennt man den Ausdruck „FDH friss die Hälfte”, impliziert das, ich bin selbst schuld?“
Lötsch: „Viele nehmen immer noch an, dass Abnehmen mit Disziplin zu tun hat. Sie selbst seien zu blöd und eben selbst schuld. Es ist in unseren Köpfen einfach nicht verankert, dass das eine schwere Erkrankung ist. Wenn sich Hormone einmal verselbständigen, hat das nichts mehr mit Disziplin zu tun. Mit diesem Stigma gehört aufgeräumt, denn diese Menschen leben seit ihrer Kindheit mit schlechtem Gewissen. Das Schlimmste ist, wenn sich alles nur noch ums Essen dreht und Genuss nicht mehr möglich ist. Das ist eine Teufelsspirale. Leider ist Adipositas als Erkrankung noch nicht so verankert und es gibt damit auch keine strukturierte Versorgung in Österreich. Wichtig ist, dass man sich mal in diese Patienten hineinfühlt. Adipositas har so viele Gesichter und Übergewicht kommt aus verschiedenen Bereichen. Die Psyche darf man nicht außer Acht lassen. Essen wird auch vielfach missbraucht, um Gefühle zu befriedigen. Sei es Belohnung, Kummer oder Stress. Da muss man ansetzen. Ist das Übergewicht ein Sättigungsproblem, ein Appetitregulationsproblem oder ist es ein emotionales Thema? Oder ist es wirklich ein Ernährungsthema und der Betroffene weiß nicht, wie gesunde Ernährung aussieht und er hat keine Tagesstruktur; dann ist es ein diätologisches Thema.“
Winhofer: „Da möchte ich noch einhaken. Das kennen wir ja alle, dass wir Stress haben und schnell eine Schokolade brauchen, oder uns so gar nicht zu Bewegung motivieren können, oder so ausgehungert sind, dass wir drei Pastateller verdrücken. Der Unterschied ist: Bei Adipositas als Krankheit ist das alles im Alltag so ausgeprägt, dass ich damit nicht mehr zurechtkomme. Das muss ganz klar hervorkommen. Ab hier braucht man eine Therapie.“

Abnehmspritze – Was bleibt vom Hype?

Auf Dauer lässt sich das Gewicht nur mit einer Lebensstiländerung halten.

Meryn: „Zurück zu der Spritze. Wieso gibt es gerade jetzt 2023/24 so einen Hype? In Wahrheit haben Sie diese Substanz ja auch schon viel früher eingesetzt.“
Winhofer: „Naja, es war schon sehr angetrieben von den sozialen Medien und Leuten wie Elon Musk und Kim Kardashian, die ganz offen zugegeben haben, dass sie es nehmen, aber mit einem ganz anderen Ziel: Um in eine kleinere Kleidergröße zu passen, um den Partyspeck loszuwerden. Dafür ist es meiner Meinung nach nicht gemacht.“

Meryn: „Sie sind ja ein tolles Beispiel dafür, dass man mit einer Ernährungsumstellung abnehmen kann. Das Problem ist nur: Wie halte ich das? Wieso haben Sie sich also damals entschlossen, die Vorgängersubstanz von Semaglutid, Saxenda, zu spritzen? Und was waren Ihre Erfahrungen?“
}ändling: „Entschlossen habe ich mich, weil es plötzlich nicht mehr geklappt hat mit dem Abnehmen. Ich wusste, ich muss mich so viel bewegen, keine Kohlenhydrate essen und mich gesund ernähren aber es hat nicht mehr geklappt. Adipositas hat viele Ursachen, aber irgendwann sind die Hormone dermaßen aus dem Gleichgewicht, dass alle Systeme eingreifen: die Sättigungs- und Hungergefühlshormone funktionieren nicht mehr, man kann sich nicht mehr zurückhalten, das hat nichts mehr mit Trost oder Ausgleich zu tun.“

Meryn: „Hier müssen wir ein Rufzeichen setzen! Das hat nichts mit dem Vorwurf zu tun, die Patienten wären undiszipliniert. Das wäre, wie wenn ich einer Frau vorwerfen würde, in den Wechsel zu kommen. Da finden enorme Veränderungen im Körper statt. Man ist dem wirklich ausgeliefert und es hat nichts mit Disziplin zu tun.“
Jändling: „Genau. So habe ich angefangen, mich über Adipositas zu informieren und auch erstmals erfahren, dass es eine chronische Erkrankung ist. Somit habe ich mich auf die Suche nach Adipositas-Zentren gemacht und in fünf Spitälern angerufen nur in keinem davon wussten sie, dass sie eine Adipositas-Ambulanz haben.“

Meryn: „Was waren Ihre Erfahrungen mit Saxenda?“
Jändling: „Es war toll. Ich habe es bekommen, gespritzt und musste nicht mehr an Essen denken. Ich konnte arbeiten, meinen Alltag bestreiten, mich um die Kinder kümmern, Essen war einfach nicht präsent. Ich hatte Hunger, hab gegessen und fertig war es. Ich denke mir, so fühlt sich ein normaler Mensch. Wenn man aber schon so aus dem Gleichgewicht geraten ist, ist der Alltag tatsächlich nur noch vom Gedanken an Essen geprägt. Einerseits hat man diese Schuldgefühle, weil man ja gerade gegessen hat, auf der anderen Seite diesen Hunger.“ Meryn: „Sie spritzen heute noch. Welches Verhältnis haben Sie heute zum Essen?“
Jändling: „Das Verhältnis ist nicht besser geworden. Ich bin jetzt zwar satt, wenn ich gegessen habe, aber es ist immer ein Trigger. Es ködert mich. Hier muss ich noch an mir arbeiten. Ich glaube schon, dass man sich auch mit der psychischen Seite von Adipositas auseinandersetzen muss, um sein Verhältnis zum Essen zu revidieren.“

Abnehmspritze – Was bleibt vom Hype?

Oft wird Adipositas-Patienten mangelnde Disziplin vorgeworfen zu Unrecht.

Meryn: „Welches sind die Trigger und wie kann ich mich selbst unterstützen?“
Lötsch: „Wenn man merkt, dass die Gedanken immer nur darum kreisen oder wenn man etwas Süßes bekommt, will man immer mehr, kann nicht aufhören — das sind Auslöser, wodurch eine gewisse Heißhungerattacke abläuft, die sehr schwer zu stoppen ist. Da hat man eine Art Kontrollverlust. Gerade Schokolade und Zucker sind Stimuli für Glück. Und damit sind es meist Kohlenhydrate, die Stimuli sind meist teigig, fett und süß.“

Meryn: „Welche Rolle spielen die Gene?“
Winhofer: „Ja, man hat ein erhöhtes Risiko für Adipositas, wenn die Eltern adipös sind. Aber und das ist ganz entscheidend es macht uns nicht adipös. Hauptgrund ist, das wissen wir aus Studien, das adipogene Umfeld, in dem wir leben. Wir leben in einer Welt, die uns übergewichtig macht. Und ich bin mittlerweile überzeugt: Jeder Mensch kann dick werden.”

Meryn: „Was passiert, wenn ich die Medikamente absetze? Gibt es auch den Jo-Jo-Effekt?”
Winhofer: „Es ist kein Heilmittel, sondern eine Therapie. Also ja, man wird wieder zunehmen. Das Wichtige ist, dass man die Zeit der Therapie nutzt, um den Lebensstil zu ändern. Wer diese Zeit mutzt, kann auch langfristig sein Gewicht halten. Aber der Körper wird immer zurückwollen, immer zunehmen wollen.“

Meryn: „Gibt’s da nicht die Theorie des Set-Points?“
Winhofer: „Man geht davon aus, dass der Körper immer zu einem bestimmten Erwachsenengewicht zurückwill. Nehmen wir an, das sind 65 Kilo, dann will er immer dorthin. Wenn ich auf 55 bleiben will, ist das wirklich harte Arbeit. Wie dieser Set-Point zustande kommt, ist noch nicht klar. Man spricht über Veränderungen im Gehirn, Hypothalamusreaktionen, Entzündungsreaktionen, vor allem bei Menschen mit Übergewicht. Aber man weiß mittlerweile, dass der Set-Point verstellbar ist, etwa durch soziale Veränderungen. Wir werden noch viel dazulernen.“
Lötsch: „Da würde ich gern noch ansetzen. Ursprünglich war Saxenda ja für ein Jahr zugelassen. Dann sah man, dass ein Absetzen schwierig ist für die Patienten. Die beschreiben auch, dass diese appetitregulierende Wirkung am Anfang besonders stark ist Aber dann bedarf es sozusagen einer Erhaltungsdosis. Und trotzdem muss der Patient immer nachregulieren. Also es ist eigentlich ein Dauerthema, das bleibt, aber auf einem niedrigeren Niveau. Dieses Aus-der-Bahn-Geraten der Appetitkontrolle hat auch mit einem gewissen Anteil an Fettgewebe zu tun. Ab einem bestimmten BMI läuft alles aus den Fugen. Die Chance, die man hier hat ist, dass man durch die Spritze wieder in einen Bereich kommt, in dem die Hormone wieder von selbst gesunden. Das passiert natürlich nicht bei jedem, aber es ist eine Chance.“
Jändling: „Auch ich habe eine Insulinresistenz, die sich durch die Gewichtsabnahme nicht gebessert hat. Solange aber Insulin im Körper ist, findet keine Fettverbrennung statt. Das allein ist schon ein Grund für mich, das Medikament weiter zu nehmen.“

Meryn: „Es geht also nicht darum, was ich auf meiner Waage sehe, sondern darum, was genau man verloren hat. Das Problem ist das Fett. Sehen Sie das auch so?“
Winhofer: „Absolut. Deshalb ist es auch so wichtig, dass man sich hier betreuen lässt. Der Alleingang ist immer schwierig.“ Meryn eröffnet die Abschlussrunde: „Was würden Sie Menschen raten, die überlegen, die Abnehmspritze zu nehmen?“
Lötsch: „Obwohl die Spritze in Österreich noch was kostet, würde ich nicht an der begleitenden Betreuung sparen, weil man so die Chance hat, auch dauerhaft Gewicht zu verlieren. Und Blutkontrollen einhalten! Nicht im Alleingang, weil es gibt sehr wohl Nebenwirkungen etwa an der Bauchspeicheldrüse, Gallensteine und das gehört eindeutig von einem Arzt betreut.“
Winhofer: „Was ich gelernt habe in den letzten Jahren: Die Menschen waren sehr lange auf sich allein gestellt. Wir sind gerne bereit, sie zu begleiten.“
Jändling; „Man braucht einfach Hilfe. Es ist ganz toll, dass man sich heutzutage an Ärzte wenden kann und eine medizinische Betreuung erhält. Dafür sollte sich keiner schämen!“