Ganz Österreich im Rausch – Wie gefährlich ist Alkohol?

Der folgende Text stammt von Julia Brunhofer für die ORF Nachlese April 2024.

Osterreich zählt zu den Spitzenreitern Europas, was den Pro-Kopf-Konsum von Alkohol angeht. Die Wissenschaft warnt: Alkohol ist ein Zellgift und kein Genussmittel.

Im „gesunden Gespräch“: Alexander J. Rüdiger, Dr.in Manuela Macedonia, Sigfried Meryn und Dr. Thomas Dorner.

Zum Abendessen ein Bier, zu besonderen Anlässen ein Achterl Wein und beim Feiern die Korken knallen lassen: Selbst, wenn der berühmte Kater nach einen vergnüglichen Abend bei vielen nicht unbemerkt bleibt, sind doch zahlreiche Menschen von der gesundheitsfördernden Wirkung des Alkohols in moderaten Mengen überzeugt. Doch die Wissenschaft warnt: Alkohol darf nicht verharmlost, sondern muss als das betrachtet werden, was er ist: ein Zellgift.

Meryn: „Weiche Bedeutung hat Alkohol für die österreichische Gesellschaft?
Samy: „Er ist sehr tief in unserer Kultur verankert, er ist Teil unseres Alltags geworden und es ist sehr schwer, sich dem zu entziehen.“
Reiberger: „Für manche ist der Alkohol fast Grundnahrungsmittel. Zum Schnitzel wird ein Bier konsumiert. Oft ist es aber die Kombination aus österreichischer Kultur, fertigen Speisen, tierischen Produkten und Alkohol, die schädlich ist. Viele Patienten wissen das, aber sie spüren den sozialen Druck. Also es ist nicht nur ein medizinisches, sondern vor aller kulturelles Thema in Österreich.“ Titze ergänzt: „Solange man trinkt und funktioniert, ist es angesehen. Wenn man dann aber rausfällt, weil man ein problematisches Verhältnis zu Alkohol oder eine Sucht hat, dann kippt das Ganze und man ist plötzlich unten durch. Auf der Bühne als Kabarettistin erzähle ich ja von meinem Alkoholismus und ich bekomme da sehr unterschiedliche Reaktionen. Da ist alles dabei. Ich bin auch ein Spiegel für die Zuschauer. Ich habe sehr viel getrunken, war in einer Alkoholklinik, aber habe den Weg raus geschafft und zeige damit: Ich bin trockene Alkoholikerin, aber präsentiere mich.“

Meryn: „Inwieweit ist unsere kulturelle Akzeptanz suchtfördernd?“
Samy: „Man muss nur intensiv und lange genug Alkohol trinken, um eine Suchterkrankung zu entwickeln. Und wenn das kulturell erwünscht ist und auch tagsüber (das war früher nicht so) Teil des Alltags wird, fördert das zusätzlich eine Sucht. Vor allem für Frauen war das gar nicht angesehen.“

Meryn: „Es ist doch erstaunlich: Etwa beim Rauchen eines Joints wissen wir, dass das Suchtpotenzial wesentlich geringer ist als bei Alkohol, und doch sind da alle so vorsichtig und machen sich Gedanken.“
Sarny: „Es ist tatsächlich so und ich glaube, dass Österreich hier einen blinden Fleck hat. Wir nehmen das einfach so nicht wahr, weil es von Anfang an üblich ist, Alkohol zu trinken. Kinder beobachten ihre Eltern und ahmen sie nach. Das ist bei Cannabis nicht in diesem Maß vorhanden. Es ist gesellschaftlich erwünscht, dass man trinkt, wenn aber eine Suchterkrankung entsteht, dann ist man stigmatisiert. Mit ein Grund, wieso Betroffene oft lange brauchen, um sich in Therapie zu begeben.“

Ganz Österreich im Rausch – Wie gefährlich ist Alkohol?

Der berühmte Kater sind Akutsymptome eines Alkoholkonsums doch greift er weit tiefer in den Körper ein

Meryn: „Frau Titze, wann haben Sie erkannt, dass Sie ein Alkoholproblem haben?“
Titze: „Ich habe mit 16 begonnen, Alkohol zu trinken und sehr schnell gemerkt, dass er mir etwas gibt: Entspannung, ich kann im Mittelpunkt stehen, ich bin lustiger. Und das habe ich meine 20er entlang so gemacht und sehr viel getrunken. Dann hatte ich oft Blackouts und schon im Hinterkopf, dass da was nicht stimmt. Ich wollte es aber nicht wahrhaben. Ich denke, das ist genau darum, weil es eben so stigmatisiert ist. Ich habe dann mal einige Wochen nichts getrunken, weil dann kann ich ja nicht Alkoholikerin sein, ich hab‘s ja im Griff. Ich hatte dann ein massives Burn-out, wodurch ich entdeckt habe, dass das alles so nicht funktioniert, wie ich mir das vorstelle und dass mein Alkoholkonsum in Wahrheit mich im Griff hat. Also man wacht nicht auf und sagt: Huch, ich habe ein Alkoholproblem. Man muss sich lange damit auseinandersetzen und es sich eingestehen.“

Meryn: „Wir haben jetzt schon von den Auswirkungen auf die Psyche gesprochen, aber es gibt natürlich im menschlichen Körper eine Vielzahl von Auswirkungen bei Alkoholkonsum.“
Reiberger: „Im Allgemeinen gibt es fast nichts, was der Alkohol nicht kann – man braucht sich nur seinen Weg durch den Körper vor Augen zu führen: Angefangen von Schleimhautläsionen, Problemen im Verdauungstrakt und mit dem Darm-Mikrobiom, über die Resorption in den Blutkreislauf, wo der Alkohol zuerst auf die Leber trifft, ein lebenswichtiges Organ. Wie gesagt, Alkohol ist ein Zellgift und dementsprechend gibt es kaum ein Organ, das verschont bleibt. Es gibt auch Auswirkungen auf den Knochenstoffwechsel, Osteoporose sehen wir viel, alkoholbedingte Stürze, Frakturen, das Herz ist betroffen und das endokrinologische System, also der Hormonhaushalt. Wir sind in Österreich auch mit den Jugendlichen ganz vorne beim Alkoholkonsum dabei und gerade in diesem Alter ist er sehr schädlich, da kann er sehr viel kaputt machen.“

Meryn hakt nach: „Welches sind die Langzeitfolgen?“
Reiberger: „Akutfolgen, den typischen Kater, kann der Alkohol an jeder Zelle haben. Bei chronischem Alkoholkonsum steht die Leber ganz vorne — von Entzündungen bis Leberzirrhose, Vernarbung. Und am Gehirn gibt es Atrophie, also das Hirb wird kleiner, das sieht man am CT. Das wirkt sich auf die Konzentrationsfähigkeit bis hin zu demenzartigen Erkrankungsbildern aus. Die Psyche ist natürlich mitbetroffen. Außerdem ist Alkohol nicht gerade der Freund der Bauchspeicheldrüse.“

Meryn: „Sie sehen so viele Patienten was sind das für Menschen? Welche Hilfe suchen und brauchen sie?“
Sarny: „Die Menschen sind aus allen gesellschaftlichen Schichten und beruflichen Bereichen. Alkoholsucht kann jeden treffen und betrifft den Menschen auch in seiner Gesamtheit. Es leidet auch immer das Umfeld mit. Aber genauso der Körper, wie wir gerade gehört haben, enorm und die Psyche. Einerseits ist Alkohol eine depressionsfördernde Substanz, andererseits wird er wie ein Medikament für Entspannung, zur Angstlösung oder Schlafförderung konsumiert. In niedrigen Dosen hat er einen stimmungshebenden Effekt, höher dosiert macht er auch akut eine depressive Stimmung. Da landen Betroffene in einen Teufelskreis.”

Meryn: „Gibt es Unterschiede zwischen Mann und Frau?“
Samy: „Die ganz aktuellen Zahlen sind: Sieben Männer kommen auf drei Frauen. Vor 15 Jahren war das noch 1:4, Frauen holen auf. Es gibt nicht die Suchtpersönlichkeit, das hat man lange erforscht. Aber was wir beobachten, ist eine Häufung bei Traumatisierungen in der Vergangenheit, psychisch wie körperlich.“

Meryn: „Welche Rolle spielen die Gene und sind Menschen, die dem Alkohol zugetan sind, generell anfälliger für andere Suchterkrankungen?“
Samy: „Grundsätzlich gibt es eine genetische Neigung bei psychischen Erkrankungen, auch bei Suchterkrankungen. Hier liegt die Genetik doch relativ hoch bei etwa 50 Prozent. Aber beim Alkohol bezieht sich das mehr auf die Alkoholverträglichkeit. Dadurch neigt dieser Mensch natürlich dazu, mehr zu trinken, weil er die abschreckende Wirkung nicht hat.“

Meryn: „Und abseits der Gene wer verträgt mehr und warum?“
Reiberger: „Das Eine ist die Verstoffwechslung des Alkohols per se, die ist natürlich nicht nur beim Alkohol von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Und das Zweite: Wie schädlich ist der Alkohol für die individuelle Person? Für beide Faktoren kennen wir inzwischen verschiedene Risikofaktoren und es ist tatsächlich so: Es gibt einfach Menschen, die mit einer geringeren Menge Alkohol einen größeren Schaden an der Leber oder an anderen Organen erleiden als andere. Bei Frauen ist generell der erste Schritt, also die Verstoffwechslung, langsamer, weshalb die Menge an Alkohol, die wahrscheinlich über längeren Zeitraum keine schädlichen Auswirkungen auf die Leber und andere Organe hat, bei Frauen geringer ist.“

Ganz Österreich im Rausch – Wie gefährlich ist Alkohol?

Weg aus der Sucht: Entscheidend ist, sich professionelle Hilfe zu holen.

Meryn: „Frau Titze, Sie haben kurz vor dem Lockdown 2020 einen Tiefpunkt gehabt. Wollen Sie erzählen, was passiert ist?“
Titze: „Ich hatte ein Burnout, habe sehr viel gearbeitet und meine Entspannungsstrategie war es, abends in die Bar zu gehen. Und das war ein Teufelskreis. Statt Sport zum Ausgleich habe ich getrunken. Dann kam ich ins Spital. Es ging gar nichts mehr. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Dann habe ich mir Hilfe geholt. Ich sage jetzt, dass das das größte Glück war, weil hätte ich das so nicht gemacht, hätte ich auch nicht den Alkohol bekämpft und würde hier nicht nüchtern sitzen. Dieser Tiefpunkt hat mir das Leben gerettet.“

Meryn: „Die zentrale Botschaft scheint mir zu sein: Allein ist das nicht zu schaffen.“
Titze: „Absolut. Und diese Reha-Kliniken sind so wichtig. Ich hatte solche Angst, dort hinzugehen, denn es ist so stigmatisiert, in eine Reha-Klinik zu gehen. Aber das hat mich gerettet.“

Meryn: „Ist das überall in Europa so, dass es so stigmatisierend ist, in eine Reha-Klinik zu gehen?“
Reiberger: „Natürlich ist das individuell, aber das Stigma des Alkohols für den Betroffenen ist groß und umgekehrt in der Gesellschaft ist der Alkohol wenig stigmatisiert, da gibt es eine große Diskrepanz.“
Samy ergänzt „Ich glaube, wenn man sich in solch eine Therapie-Einrichtung begibt, ist es sozusagen amtlich, dass man alkoholkrank ist: Und das ist gleichzeitig die große Hürde.“ Meryn: „Kann jeder alkoholsüchtig werden?“
Sarny: „Theoretisch kann es jeden treffen, aber man kennt sein persönliches Risikoprofil nicht. Das Risiko, an einer Alkoholsucht zu erkranken steigt mit der Dosis, die man zu sich nimmt. Es kann aber durchaus sein, dass man Alkohol in höheren Dosen zu sich nimmt und keine Sucht entwickelt, aber auch in niedrigen Dosen und dennoch eine entwickelt das weiß man eben vorher nicht.“

Meryn: „Frau Titze, Sie waren drei Monate in der Reha-Klinik was passiert in dieser Zeit?“
Titze: „Erstmal habe ich natürlich den Alkohol weggelassen und man wird sehr schnell viel klarer im Kopf, gesünder. Es ist eine Achterbahnfahrt, die Gefühle drehen durch, weil man ist in Therapie, hat Gruppensitzungen, macht Sport, musiziert man widmet sich plötzlich sich selbst. Da kommt viel Schönes und viel Hässliches raus. Aber ich kann das gar nicht so beschreiben, ich erlebe gleichsam einen zweiten Frühling, mein Leben war von 16-34 von Alkohol gezeichnet.“

Meryn: „Leider höre ich oft von Patienten, dass sie rückfällig werden. Wieso?“
Samy: „Solch Rezidive sind das Wesen einer Suchterkrankung, weil es ja eine chronische Erkrankung ist. Es steht und fällt alles mit der Nachbetreuung. Es ist sehr wichtig, dass man dranbleibt und weiter an sich arbeitet. Am besten, man macht weiter eine Suchtberatung, geht zu den Anonymen Alkoholikern oder zu einem Psychotherapeuten. Es muss nicht wöchentlich sein, aber ein Leben lang.“

Meryn: „Wie läuft eine stationäre Therapie ab?“
Samy: „Der Patient wird aufgenommen, wir erheben eine Anamnese und leiten eine Entzugsbehandlung ein. Das ist die Akutphase. Die Patienten werden dann rasch in ein therapeutisches Programm integriert. Es gibt tägliche Visiten und parallel werden Zusatzerkrankungen behandelt. Ist der Entzug vorbei, kommt die Entwöhnungsphase, wo die Hintergrundprobleme beleuchtet werden. Alles sehr individuell.“

Meryn: „Gibt es Medikamente, die das Verlangen senken?“
Samy: „Es gibt Anti-Craving-Medikamente, die das Suchtverlangen mindern. Das sind aber keine Wundermittel. Es gibt auch ein Medikament, das die Trinkmenge reduziert, das zahlt in Österreich die Kasse aber nicht; und eines, dass eine gewisse Alkoholunverträglichkeit bewirkt. Das ist bei manchen Patienten angebracht, aber immer nur in therapeutischer Begleitung.“

Meryn: „Was würden Sie den Menschen mitgeben, die hier in Schwierigkeiten sind?“
Reiberger: „Man darf den Alkohol nicht verharmlosen. Es ist nicht nur die Leber, sondern es sind viele Organsysteme betroffen. Alkoholfasten der berühmte Schleier, der sich lichtet, das sollte jeder, der regelmäßig trinkt, versuchen. Man wird überrascht sein. Aber auch schon bei schweren Leberschäden: Es ist nie zu spät, die Leber hat eine enorme Regenerationsfähigkeit, nutzen Sie das!“

Meryn: „Wie sieht eigentlich verantwortungsvoller Umgang mit Alkohol aus?“
Sarny: „Man muss sich der Gefahren des Alkoholkonsums bewusst sein und wissen, was man sich damit möglicherweise antun kann — sich und seinem Umfeld. Mehr Aufklärungsarbeit wäre sehr wünschenswert.“
Titze: „Ich arbeite jetzt daran, dass Alkoholismus entstigmatisiert wird, dass wir uns nicht so sehr dafür schämen, dass sich Menschen eher trauen, in Therapie zu gehen. Und sich mehr mit ihrem tatsächlichen Alkoholkonsum auseinandersetzen. Denn das Leben ist so schön ohne Alkohol. Man kann nüchtern ein wunderbares Leben führen. Ich kann es nur empfehlen!“