Zucker – Der Feind auf meinem Teller

Der folgende Text stammt von Julia Brunhofer für die ORF Nachlese Februar 2024.

Das Problem: Zu hoher Zuckerkonsum, Diabetes, Adipositas und andere Folgeerkrankungen sind auf dem Vormarsch. Die Lösung: Bewusstseinsschaffung. Denn noch süßer bedeutet nicht immer noch besser.

Im „gesunden Gespräch“: Dr. Johanna Brix, Mag.a Karin Lobner, Siegfried Meryn und Christian Rumerskirch.

Österreich ist das Land der Mehlspeisberge. Pro Kopf konsumiert jede Österreicherin und jeder Österreicher mehr als 30 Kilo pro Jahr. Übersetzt heißt das: 90 Granmm Zucker pro Tag. Als Süßspeise oder auch versteckt in Softdrinks oder Fertiggerichten.

Meryn: „Wie sieht der internationale Durchschnitt aus und wo liegt für Sie die magische Zuckergrenze?“
Brix: „Das Problem ist der versteckte Zucker, den wir sehr häufig konsumieren. Er ist in vielen Teilen der Nahrung permanent enthalten, wo man oft nicht damit rechnet. Das sieht man auch gut am Beispiel Mexiko, wo es weltweit die meisten adipösen Kinder gibt. Dort werden regelmäßig Limonaden mit Unmengen Zucker getrunken, die man leicht weglassen könnte.“

Meryn: „Wenn ich Ihnen so zuhöre, ist die Botschaft auch: Zucker ist nicht Zucker.“
Brix: „Für mich macht die Dosis das Gift. Bleiben wir beim Beispiel Säfte: Man trinkt viel Orangensaft, denkt, das sei gesund. Es ist aber sehr viel Fruchtzucker, was eine Fettleber begünstigt. Man sollte sich einfach bewusst sein, wo man überall Zucker konsumiert. Grundsätzlich ist er ist ein Grundnahrungsmittel. Das Hirn ernährt sich von Zucker. Wir brauchen ihn auch für die Denkleistung. Die WHO empfiehlt 25 g Zucker pro Tag. Wobei Grammzahlen für den Einzelnen immer schwierig umzusetzen sind und ein Aufwand, der oft nicht betrieben wird.“

Meryn: „Wie motivieren Sie dazu, Zucker wegzulassen?“
Lobner: „Ich sage niemandem, dass er den Zucker weglassen muss. Auch für mich macht die Dosis die Medizin oder das Gift. Es geht darum, den Menschen wieder ein Gespür dafür zu geben, wie süß es eigentlich sein muss. Kann ich mich vielleicht ein bisschen entwöhnen? Süß ist der Geschmackssinn, der uns Menschen zufrieden macht. Das ist uns teils evolutionär angeboren: Süß bedeutet Sicherheit, süße Beeren lieferten unseren Vorfahren viel Energie, süß ist meist nicht giftig und löst noch heute in uns allen Wohlbefinden aus. Aber die Frage ist: Macht mich noch mehr süß noch glücklicher? Wahrscheinlich nicht. Und darum geht es.“

Meryn: „Kann man auch sagen, dass in der Lebensmittelindustrie ganz bewusst mit dem Geschmack gespielt und verführt wird?“
Lobner: „Ganz klar. Der Mensch mag es gerne, wenn alle Geschmacksrichtungen in einem Lebensmittel oder einer Speise enthalten sind. Wir finden die Mischung aus süß, sauer und salzig einfach gut. Deshalb finden wir in Fertigprodukten meist auch Zucker, auch um es ein wenig abzurunden.“

Meryn: „Herr Rumerskirch, Sie konsumieren wenig bis gar keinen Zucker bzw. sind Verfechter der ketogenen Diät. Warum das und was versteht man darunter?“
Rumerskirch: „Ich bin seit über 30 Jahren ein Verfechter von Krafttraining; und wenn man sich damit auseinandersetzt, geht es auch um Ernährung. Für welche Ernährungsform sich der Einzelne auch entscheidet: Es muss in den Alltag passen, dieser Mensch sollte gefühlsmäßig auf nichts verzichten müssen und Spaß dran haben. Dann ist eine Ernährungsform auch lange durchzuhalten.“

Meryn: „Darf ich da provokant nachhaken? Ich war ein dickes Kind und Ich sag Ihnen, was mir Spaß gemacht hat: sehr Zucker- und Kalorienreiches. Und ich kann noch heute schwer einer süßen Nachspeise widerstehen.“
Rumerskirch: „Es gibt Rahmenbedingungen und das ist auch studienmäßig belegt: Die Kalorien machen den Unterschied. Es ist weder der Zucker noch das Fett Wenn die Rahmenbedingungen der Kalorienzufuhr stimmen, können Sie mit Ihrer Malakofftorte oder den Marillenknödeln abnehmen.“

Zucker - Der Feind auf meinem Teller

Bewusstseinsschaffung: Limo oder Fruchtsalat? Wie viel Zucker steckt wirklich drinnen und in welcher Form?

Meryn: „Was ist nun ketogene Ernährung?“
Rumerskirch: „Ich definiere sie als einen Zustand des Körpers, in der Ketose zu sein. Das heißt, mein Körper produziert messbar Ketonkörper, die der Körper anstelle von Zucker als Energie heranziehen kann.“

Meryn: „Und Sie essen völlig zuckerfrei? Hatten Sie Entzugssymptome?“
Rumerskitch: „Habe ich 14 Jahre lang, jetzt sehr reduziert. Und ja, man hat Entzugssymptome. Vor allem am Anfang Kopfschmerzen. Wenn man nicht mit Elektrolyten wie Knochenbrühe oder mehr Salz steuert, auch Müdigkeit, aber nur 2-3 Tage. Wenn man es richtig macht, spürt man relativ wenig, wenn man es falsch macht, hört man nach einer Woche wieder damit auf.“

Meryn: „Hier sitzt eine der führenden Diabetologinnen des Landes. Sie sind aber auch Expertin für medizinisches Abnehmen verschreiben Sie auch ketogene Ernährung? Ist solch eine Diät medizinisch zu empfehlen?“
Brix: „Was sich auf jeden Fall in den letzten Jahren herauskristallisiert hat ist, dass das Low-Carb-Modell, bei dem wenig Kohlenhydrate gegessen werden, gut funktioniert. Der Schritt von wenig Kohlenhydraten zu ketogener Ernährung ist dann ein fließender.“

Meryn: „Ich habe vor Kurzem eine Arbeit der amerikanischen Kardiologengesellschaft gelesen. Die hat sich aber zum Beispiel gegen eine gänzlich zuckerfreie Ernährung ausgesprochen, da dem Körper damit wichtige Ballaststoffe und andere Dinge fehlen. Aber ein reduzierter Zuckerkonsum sei sehr zu empfehlen.“
Brix: „Für die Allgemeinheit würde ich Low-Carb empfehlen, das ist sicher gesundheitsfördernd, deckt sich auch mit der mediterranen Ernährungsform, die wir auch sehr gerne vorschlagen. Bei ketogener Ernährung muss ich schon bereit sein, mich damit wirklich sehr auseinanderzusetzen.“

Meryn: „Sind Honig, Kokosblütenzucker oder Zuckeralternativen gesünder?“
Lobner: „Um Nuancen ja. Wenn man in vernünftigen Mengen bleibt, ist es relativ egal, welchen Zucker man verwendet. Gerade etwa für übergewichtige Kinder können Zero-Getränke eine Art Krücke als Übergang sein, erstmal zu leicht gesüßten Getränken, um sich ein wenig zu entwöhnen, aber das Ziel ist für mich Wasser.“
Rumerskirch: „Für mich stellt sich immer die Frage, wenn es ‚kein Zucker‘ heißt Bedeutet das kein Würfelzucker, kein Honig, keine Kartoffeln, kein Couscous, keine Teigwaren oder kein Weißbrot? Im Körper wird mit Zucker gearbeitet und jedes Kohlenhydrat zu Zucker zerlegt. Natürlich macht es einen Unterschied, ob es Einfach oder Mehrfachzucker sind, wie schnell es den Zuckerspiegel im Blut ansteigen lässt.“

Meryn: „Sie haben aber mal komplett zuckerfrei gelebt?“
Rumerskirch: „Ja, dann meine ich karnivor, also ernähre mich nur von Fleisch wenn ich von zuckerfrei spreche, bewege ich mich zwischen 15 und 25 Gramm Zucker pro Tag. Wenn ich rechne, dass eine Avocado ca. sieben Gramm Zucker enthält, reichen zwei Avocados, um meinen Zucker für einen Tag zu decken.“
Meryn: „Und den wenigsten dürfte wirklich bewusst sein, dass sie selbst mit Avocados Zucker aufnehmen.“

Meryn: „Die Evolution leistet das Ihre, aber auch das Soziokulturelle spielt eine große Rolle, wie der Umgang mit Zucker gelebt wird, aber auch schon im Mutterleib.“
Brix „Das ist sehr spannend und es gibt sehr gute Daten aus den Niederlanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es diesen Hungerwinter 1945/46. Bei der Studie hat man die Kinder jener Frauen nachuntersucht, die damals in dieser Zeit schwanger wurden. Gesehen hat man epigenetische Veränderungen. Das heißt, eine minimale Veränderung in deren Erbgut, die bewirkt hat, dass die Kinder dieser Frauen eher zu Adipositas und Typ-2-Diabetes geneigt haben. Das bedeutet, die Kinder wurden vom Erbgut vor diesem Hunger geschützt, den diese Frauen erlitten haben, indem der Körper viel mehr einlagerte. Das Faszinierende ist auch, wie schnell so etwas geht, also innerhalb einer Generation.“

Meryn: „Wie sehen die Schwangerschaft einer Frau und die ersten zwei Lebensjahre eines Kindes aus, damit man günstige Voraussetzungen schafft?“
Brix: „Definitiv wissen wir, dass es in der Schwangerschaft beginnen muss. Man kann immer alles auch im Leben noch in die andere Richtung drehen, aber die ersten Anlagen fallen einfach in diese sehr sensible Phase der Schwangerschaft. Und was die ersten Lebensjahre eines Kindes angeht, da gibt es auch gute Empfehlungen des Ministeriums, wo es darum geht, von Anfang an eine bessere Ernährung für Kinder zu gewährleisten.“

Zucker - Der Feind auf meinem Teller

Weltweit steigen die Fallzahlen von Adipoitas und Diabetes.

Meryn: „Verführen wir unsere Kinder also dazu, dass sie es später gerne süß haben?“
Brix: „Das sicher einerseits, andererseits haben wir dieses Belohnungsverhalten und unsere Esskultur, gerade die Tradition der böhmischen Küche von Knödel bis Powidltascherl. Man hat früher weniger gegessen und sich mehr bewegt. Auch die finanziellen Ressourcen waren für den Großteil der Menschen nicht so, dass sie täglich ihr Fleisch mit Knödeln essen konnten. Das war maximal das Festtagsessen.“

Meryn: „Verallgemeinert: Finden Sie, dass das Essen in Österreichs Kindergärten und Schulen gesund genug ist?“
Lobner: „Im Wesentlichen ja. Das ist schon überlegt. Und ich finde es toll, die Kinder die ersten Jahre von Süßigkeiten fernzuhalten, die essen sie dann noch später genug. Aber selbst, wenn man den Süßgeschmack am Anfang nicht so ausprägt, gibt es irgendwann Süßigkeiten. Also es geht darum, Kindern einen richtigen Umgang damit beizubringen und sie nicht nur völlig davon fernzuhalten.“

Meryn: „Herr Rumerskirch, Sie haben in Ihrem Eingangsstatement gesagt, den Zucker müsse man sich verdienen. Bitte erklären Sie uns das.“
Rumerskirch: „Zucker ist für den Körper Energie. Ein Hauptproblem ist, wir nehmen mehr Energie auf, als wir brauchen. Darum: Beweg dich! Nutze die Energie, die du hast. Trainiere. Baue Muskulatur auf. Muskulatur ist Lebensqualität — bei jungen wie älteren Menschen. Man liest manchmal, jemand sei im Winter gestürzt und im eigenen Garten erfroren. Wenn man nur 2-3-mal die Woche etwas für sich macht, versucht, kräftiger zu werden, bringt das viel. Stichwort Verletzungsprophylaxe. Wenn ich mit Krafttraining vorsorge, investiere ich in Lebensqualität.“

Meryn: „Wieso sehen wir weltweit diese Zunahme an Diabetes und Übergewicht?“
Brix „Gerade in den Schwellenländern haben wir das sehr ausgeprägt – in Südostasien, Lateinamerika, weil die Leute dort nicht mehr so arm sind. Daher können sie sich mehr Lebensmittel leisten als früher, die sie mit Wohlstand assoziieren. Das sind Fertigprodukte, Junkfood, hochprozessierte Lebensmittel Ein zweiter Grund ist, dass immer weniger gekocht wird. In Umfragen assoziieren Menschen Kochen mit Aufwärmen. Auch Nudeln ins Wasser geben ist nicht Kochen. Die Art, wie wir uns ernähren, hat sich völlig verändert. Gleichzeitig haben wir immer weniger Berufe, in denen wir uns ausreichend bewegen. All diese Dinge führen dazu, dass wir öfter adipös werden, das wiederum führt zu mehr Fettablagerungen und einer Insulinresistenz, insbesondere im Bereich der inneren Organe wie Leber und Bauchspeicheldrüse. Dort entsteht dann eine subklinische Entzündung, die Gefäßverkalkungen begünstigt und so geht das weiter.“

Meryn: „Man hört immer wieder den Begriff ‚Ultra Processed Diets and Foods’ – wie definieren Sie das?“
Lobner: „Das ist das krasse Gegenteil zum Selberkochen, die hochverarbeiteten, hochindustriellen Lebensmittel. Das Negative ist, dass man nicht genau spüren und messen kann, was eigentlich drinnen ist. In der Industrie muss auch jedes Produkt gleich schmecken. Das ist in der Natur nicht so. Aber das erwarten sich die Konsumenten von dem Produkt. Dazu muss ich alles genau einstellen und zusammenbauen. Davon essen wir immer mehr und kochen immer weniger.“

Meryn: „Wie können wir als Gesellschaft gegensteuern, damit wir nicht zum fetten Planeten werden?“
Lobner: „Bei den Schwangeren anfangen und in Kindergärten und Schulen gehen, um die Kinder mit echten Lebensmitteln in Berührung zu bringen, sie verkosten lassen. Aufs Feld gehen und ihnen die Produktion zeigen, genauso wie das Kochen. Die Lebensqualitäten zu den Kindern bringen.“
Rumerskirch: „Mehr Bewegung und mehr Information. Die meisten Menschen glauben, dass die Milch ein Eiweiß ist, dabei ist es mehr ein Kohlenhydrat und damit wieder Zucker. Also Aufklärung!“
Brix „Ich würde mir wünschen, den Mutter-Kind-Pass länger zu haben, da gibt es auch schon Bestrebungen, und dann kann ich mich den beiden mur anschließen: Veränderung geht nur über Ernährung und Bewegung, in den Kindergärten und Schulen. Genauso wie die tägliche Turnstunde selbstverständlich sein sollte, bräuchte es ein Fach, wo die Kinder lernen: Was heißt Ernährung, was bedeutet gesund essen und was kochen? Damit nimmt man vielleicht auch die Ängste davor.“