Testosteron – macht den Mann zum Mann?

Der folgende Text stammt von Julia Brunhofer für die ORF Nachlese Jänner 2024.

Risikobereit, konkurrierend und manchmal aggressiv: So verhalten sich Männer aufgrund ihres Testosterons glauben die meisten. Die Wissenschaft spricht aber eine andere Sprache.

Im „gesunden Gespräch“ diskutiert Siegfried Meryn mit Shahrokh F. Shariat, Leiter der Universitätsklinik für Urologie der MedUni Wien/AKH Wien, Jürgen Harreiter, Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen und Benjamin Wagner, Psychotherapeut und Mitbegründer der Wiener Männergruppe „Mannsbuilder”.

Genügend davon macht den Mann erfolgreich und dominant, zu wenig davon nimmt ihm seine Männlichkeit so der „Mythos Testosteron“. Fest steht: Das im Hoden und in den Nebennieren produzierte Hormon übernimmt eine herausragende Rolle bei der männlichen Entwicklung, Vieles an männlichen Verhalten wird dennoch oft fälschlicherweise durch Testosteron erklärt und legitimiert.

Meryn: „Weiche Funktionen hat Testosteron im Körper?“
Shariat „Es ist das wichtigste männliche Sexualhormon und jede Zelle im Körper ist dem Testosteron ausgesetzt. Von Hirn-, Muskel-, Knochen bis Fettzellen alle sprechen auf das Testosteron an und dadurch hat es eine große Wirkung auf den Körper. Wo ist es besonders wichtig? In der Muskulatur. Zum Muskelaufbau, für die Resilienz der Muskulatur, aber auch für die Knochenhärte; wenn das Testosteron fällt, werden die Knochen weicher. Auch die unterschiedliche Fettverteilung, die wir bei Mann und Frau sehen, ist zum Teil testosterongetrieben. Es hat auch Auswirkungen auf das Insulin und die kognitiven Fähigkeiten, etwa wie man sich konzentriert. Also jede Zelle ist dem Testosteron ausgesetzt. Wir bemerken das erst, wenn es zu niedrig und damit irgendeine Funktion nicht ideal ist.“

Meryn: „Frauen haben auch Testosteron. Wie wichtig ist es für den weiblichen Körper?“
Shariat: „Absolut wichtig. Es geht ja nicht nur um dieses eine Hormon, sondern um ein hormonelles Gleichgewicht im Körper. Natürlich auch beim Mann, der ja auch weibliche Hormone hat.“

Meryn: „Gibt es einen Normalwert, den ein Mann an Testosteron haben sollte? Und ab wann machen sich welche Symptome bei einem Mangel bemerkbar? Und gibt es ein Zuviel?“
Harreiter: „Die Grenze ist gar nicht so klar definiert, weil es von seiten der Urologen, Endokrinologen und auch der sexualmedizinischen Organisationen verschiedene Schwellenwerte gibt. Wichtig ist für uns, dass wir die Therapie beginnen, wenn einerseits die Werte zu niedrig sind und andererseits aber auch Symptome auftreten wie Müdigkeit oder beginnender Diabetes.“

Meryn: „Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Testosteron und Diabetes?“
Harreiter: „Ja, es gibt auch Studien, die belegen, dass Menschen mit Prädiabetes oder neu manifestiertem Diabetes nach zwei Jahren Testosteroneinnahme schon eine 40 %ige Reduktion ihres Diabetes hatten. Aber Sie haben auch die Frage gestellt, ob es zu hohe Werte gibt die gibt es auch. Und hier sehen wir auch gesundheitliche Probleme. Etwa mit dem Blutbild oder mit den Herzklappen.“

Meryn: „Ist das dann ein Zuviel an Eigenproduktion oder von außen zugeführt?“
Harreiter: „Es gibt seltene Tumorarten, die ein Zuviel an Testosteronproduktion auslösen. Es ist aber schon ein bisschen ein Mythos, dass man sagt, die wären aggressiv oder gehen in die Richtung kriminelles Verhalten. Tendenziell haben wir aber die Situation, dass ein Zuviel meist von außen zugeführt wird.”
Shariat: „Ich glaube, es ist wichtig zu wissen, dass von dem gemessenen Testosteron im Körper nur ein Teil aktiv ist. Der Großteil ist ein Protein, Albumin, gebunden und damit nicht frei. Das heißt, was wir messen, ist nicht ganz aussagekräftig darüber, wieviel da tatsächlich an Wirksamkeit ist. Und Nummer zwei: Die Zellen reagieren unterschiedlich auf das Testosteron.“

Meryn: „Welche Zweifel hat ein Mann, der zu ihnen kommt, über seine Rolle in der Gesellschaft?“
Wagner: „Die größte Frage, die sich Männer in der Altersklasse 20-40 Jahre stellen, die am häufigsten zu mir kommen, ist: Wie ist Karriere und Familie vereinbar? Wir leben noch immer in einer Gesellschaft, in der die meisten Familien und damit Männer diesem Ernährermodell folgen. Da gibt es das große Bedürfnis bei vielen, etwas zu verändern. Aber dann kommt das erste Kind und die politischen Gegebenheiten sind so, dass tendenziell die Partnerin zu Hause bleibt. Auch die Väterkarenz wird nicht so angenommen, eher der Papamonat, der oft als Papaurlaub gelebt wird. Die aktive Carearbeit wird weniger übernommen.”

Meryn: „Darf ich mal provokant fragen: Spielt das Testosteron hier eine Rolle? Also sind das andere Typen, die sich Väterkarenz nehmen?“
Harreiter: „Das kann ich so nicht sagen, aber soziokulturell ist es, glaube ich, heute schon vielen Männern wichtig, auch Zeit mit der Familie zu verbringen. Von früher kennt man ja, dass die Mutter zu Hause und der Vater die ganze Woche nicht greifbar war. Erst am Wochenende konnte man vielleicht etwas zusammen unternehmen. Das wollen viele junge Menschen nicht mehr, wollen Karriere und Familie vereinbaren. Das bleibt aber gesellschaftlich, auch aufgrund der unterschiedlichen Gehälter, weiter schwierig.”

Testosteron – macht den Mann zum Mann?

Testosteron zur Leistungssteigerung vielfach mehr Lifestyle-Medikation als medizinisch indiziert.

Meryn: „Sie haben in Ihrem Eingangsstatement gesagt, Testosteron sei der Architekt männlicher Attribute. Was genau steckt dahinter?”
Shariat „Das habe ich ein bisschen als Urologe gesagt. Wir wissen, dass in den ersten Monaten Testosteron sehr wichtig für den Embryo und dessen Entwicklung zum Mann ist. Und das zweite Mal in der Pubertät. Hier bildet ein weiterer Testosteronschub die männlichen Sexualorgane und die sekundären Sexualkennzeichen wie Bart, Achselhaare, Schweißdrüsen, die sich verändern, genauso wie die Stimme. Testosteron wirkt sicherlich wie ein Architekt, aber es hat auch eine Wirkung auf das Hirn und darauf, wie Sachen wahrgenommen werden und wie wir reagieren. Also spielt es sicher eine Rolle darin, dass sich ein Mann eben so verhält, das ist ja nicht nur gesellschaftspolitisch und historisch vorgegeben.“

Meryn: „Es ist doch bemerkenswert, dass mehr männliche Embryos im Mutterleib sterben als weibliche. Oder, dass um die Geburt mehr männliche Säuglinge sterben als weibliche. Und auch, dass mehr junge Männer an Depressionen leiden als junge Frauen und auch öfter Suizid begehen. Spielt hier eine Rolle, ob man mehr oder weniger Testosteron hat?“
Harreiter: „Vor allen in der Hinsicht auf Suizid spielt das Testosteron schon eine Rolle. Da gibt es auch Daten, dass Männer meist eine Methode wählen, die letztendlich endgültig ist. Also indem Umgang damit spielt Testosteron sicher eine Rolle.“
Wagner: „Meiner Erfahrung nach holen sich Männer, wenn sie sich überhaupt Hilfe holen, diese viel zu spät. Und da liegt auch ein gewisses männliches Bild vor: Ich mach die Dinge mit mir selbst aus. Sie haben noch immer ein klares Männerrollenverständnis: Sei stark, setz dich durch, sei unabhängig, mach die Dinge mit dir selber aus. Das sehe ich aber nicht testosteronabhängig, sondern das ist soziokulturell.“
Wagner: „Ein US-amerikanischer Psychotherapeut meinte: Männlichkeit heißt Verbindungslosigkeit. Wir machen Männer durch Verletzungen zu Männern. Das sieht man etwa auch in Burschenschafterreden: Es geht darum, sich gegenseitig zu verletzen, sich abzuhärten und damit seinen Mann zu stehen.“
Shariat: „Verletzungen und Unfälle sind auch bei Männern noch heute die dritthäufigsten Todesursachen. Das ist disproportional zur Frau, Also da sind wir uns glaub ich alle einig, das macht nicht ein bisschen höheres Testosteron aus, sondern die Rolle, wie man sich als Mann in der Gesellschaft wahrnimmt. Ob diese Rollenwahrnehmung irgendwann über die Testosteronausschüttung getrieben wurde — kann sein. Aber das ist, was wir daraus machen.“

Meryn: „Testosteron ist ja auch ein Sexualhormon. Wenn jemand niedrige Testosteronwerte hat, kann er Libido- oder Erektionsprobleme haben.“
Harreiter: „Es ist ein bisschen schwierig, die Ursache festzulegen, denn oft entstehen chronische Erkrankungen im Hintergrund, liegen schon länger vor und bedingen vielleicht ein niedriges Testosteron mit. Ich denke hier an Diabetes, Adipositas und Ähnliches. Wir haben ja auch noch das SHBG, das Sexhormon-bindende Globulin, das sich auch mit dem Alter verändert, aber eben auch mit steigender Insulinresistenz oder Adipositas. Hier gibt es viele Spieler, die mitwirken und eine erektile Dysfunktion mitbegünstigen können.“
Shariat: „Die Sexualität ist eine komplexe Sache. Das ist nicht nur ein Hormon oder Gefäß, auf das man sie herunterbrechen kann. Die Interaktion Testosteron, chronische Erkrankungen, Therapien oder Medikamente ist ausschlaggebend.“

Testosteron – macht den Mann zum Mann?

Das Männerbild ist mehr soziokulturell geprägt als testosterongesteuert.

Meryn: „Das nächste Männerbild: Der Gang ins Fitnessstudio. Viele junge Männer genügen sich im Spiegelbild selbst nicht und konsumieren verschiedene Substanzen von Anabolika bis Testosteron. Warum tun sie das?“
Wagner: „Eine pauschale Antwort ist hier schwierig. Ich glaube, dass es optisch ein gewisses Männerbild gibt, das durch Testosteron getrieben ist. Das sind breite Schultern, ein breiter Brustkorb, eine tiefe Stimme, möglicherweise ein Bart. Hier wird dann vermutlich gern mal nachgeholfen, um dieses individuelle Bild, das der Mann von einem Mann hat, zu erreichen.“
Shariat: „Ich möchte noch ergänzen: Es sind nicht nur die Sportler, die früher das Doping mit Testosteron gemacht haben. Heute ist auch die Erwartung an einen Mann, dass er diese Leistung, die er mit 20 oder 30 Jahren, im Sport aber auch im Beruf erbracht hat, zu halten. Aber sowohl die Leistung als auch die Aktivität sinkt im Laufe des Lebens. Hier liegt auch viel Missbrauchspotenzial, was zu schweren gesundheitlichen Schäden führen kann. Das wird im Alter aber derzeit leider eine Mode.“

Meryn: „Wir können als Männer nicht loslassen, brauchen die Selbstbestätigung, wollen vorne stehen – wie sehen Sie diesen Jugendwahn?“
Harteiter: „Daten aus Amerika zeigen klar, dass die Zufuhr von Testosteronprodukten dort in den letzten 10-20 Jahren sehr zugenommen hat. Also nicht nur medizinisch indizierte Testosterongaben, sondern Lifestyle-Medikation bei normalen Werten mit dem Ziel, die Leistung zu steigern. Ich bin mir gar nicht sicher, ob alle Männer wissen, dass ihr Testosteronspiegel mit den Jahren stetig sinkt — ab dem 30. Lebensjahr um 1-2 Prozent pro Jahr. Diese sogenannte Andropause oder -krise ist nicht so weit verbreitet, wie etwa die weibliche Menopause.
Wagner: „Meine Erfahrung ist schon, dass sich Männer schwerer tun mit dem Faktum, dass Mensch zu sein auch bedeutet, begrenzt zu sein. Wir werden alle altern und wir werden alle sterben. Damit tun sich Männer schwer und daher rührt viel. leicht auch das Bedürfnis, weiterhin leistungsfähig zu bleiben.“

Meryn: „Müssten wir als Gesellschaft schon im Kindergarten mit den Kindern anders umgehen, um diese Rollenbilder neu zu definieren?”
Shariat: „Eine Gleichstellung in den sozialen Rollen ist ein Riesenvorteil für die Männer. Der Mann stirbt im Grunde fünf Jahre früher als die Frau und ein Teil davon ist nicht biologisch, sondern beruht auf Verhalten. Wenn wir dieses risikobehaftete Verhalten, wo wir ja hier schon zusammen herausgefunden haben. dass das gar nicht so stark von Testosteron behaftet ist, verändern, können wir es schaffen, dass die Männer auch länger und gesünder leben.“

Meryn: „Ich glaube, das ist die Erkenntnis der heutigen Diskussion: Es gibt zwei Komponenten, die biologische, also genetische und hormonelle, und die soziokulturelle Komponente. Verhalte ich mich meinem Sohn oder meiner Tochter gegenüber anders?“
Wagner: „Da gibt es faszinierende Studien und eine gute Datenlage. Es wird schon von den erwachsenen Erziehungspersonen sozusagen im Umgang mit Kindern gegendert. Da gibt es Experimente. Etwa, wenn man ein Kind hellblau anzieht, greifen die hereinkommenden Personen zu einem anderen Spielzeug, als wenn dasselbe Kind rosa angezogen ist. Andere Studien zeigen: Wenn Buben sogenannte schwache Gefühle haben, also Hilflosigkeit, Trauer etc., werden sie weniger lang getröstet, die Emotion wird weniger lang gespiegelt und sie bekommen es weniger erklärt, was hier gerade passiert.”

Meryn: „Welche Rolle spielt für Sie das Testosteron für den Mann im 21. Jahrhundert?“
Wagner: „Eine sehr kleine Rolle.“
Harreiter: „Testosteron ist ein wichtiges Hormon für den Mann, aber auch für die Frau.“
Shariat: „Es ist ein wichtiges Hormon, aber man muss Perspektive und Entwicklung eines jeden Menschen sehen und, wie er sich in seiner Rolle sieht. Medizin wird immer individueller.“