ORF-Nachlese: Wie tickt unsere innere Uhr?
Der folgende Text stammt von Julia Brunhofer für die ORF Nachlese März 2022
Schichtarbeit, die Zeitumstellung, Stress und moderner Lebensstil bringen die innere Uhr manchmal richtig aus dem Takt. Welche gesundheitlichen Probleme das mit sich bringen kann und welche Auswege es gibt.
Im „gesunden Gespräch“: Edda Winkler-Pjrek, Brigitte Holzinger, Siegfried Meryn und Claudia Lazar.
Im Jahr 2017 erhielten drei amerikanische Biomediziner den Nobelpreis für das Entschlüsseln der inneren Uhr im 24-Stunden-Takt: Wann Menschen gut denken, essen, Sport treiben oder besser abschalten und träumen sollten. Dabei ist die innere Uhr – der Biorhythmus – auch sehr individuell: Sie wird schon vor der Geburt in den Genen verankert und an ihr lässt sich kaum drehen. Sie reguliert Hormonspiegel, Körpertemperatur, Schlaf und Wachphasen ebenso wie das Leistungsvermögen zu unterschiedlichen Tageszeiten. So gibt es sogenannte Eulen und Lerchen, die jeweils den Morgen oder den Abend zu ihrer Lieblingszeit zählen. Und so manch Schlafloser kennt die Zeit um vier Uhr früh, die auch als „Zeit des Wolfes“ beschrieben wird, wo Gedanken schwärzer und Schmerzen stärker sein können.
Für Meryn ist aber eines offensichtlich: „Der moderne Mensch hat begonnen, den Kalender selbst zu schreiben. 24 Stunden, 365 Tage und je nach Kulturkreis einmal nach der Sonne und einmal nach dem Mond. Aber stimmen diese 24 Stunden wirklich? War es nicht so, dass eigentlich die Sonne und der Mond die Taktgeber waren?“
Holzinger: „Wir haben eigentlich dieselbe innere Uhr wie die Natur. Wir sind alle gekoppelt an diese – wie ich es gerne nenne – Orientierung in der Zeit. Der Mensch hat die Mittel entwickelt, um diese innere Uhr zu manipulieren. Mit dem elektrischen Licht etwa konnte man im wahrsten Sinne des Wortes die Nacht zum Tag machen.“
Aber was nun, wenn Menschen – nicht zuletzt berufsbedingt – ihren Biorythmus brechen (müssen)?
Winkler-Pjrek: „Ich würde hier grob unterscheiden: Wir haben einmal die Problematik der Zeitumstellung, also von Winter auf Sommerzeit, also einen kurzen Jetlag, und dann das ständige Leben gegen die innere Uhr. Das würde ich trennen. Ich glaube, diese kurze Zeit der Zeitumstellung ist relativ leicht zu verarbeiten. Aber das ständige Leben gegen den Rhythmus ist völlig anders. Der innere Rhythmus wird ja durch äußere Faktoren, vor allem das Licht, beeinflusst. Man weiß, dass Schichtarbeit zahlreiche psychiatrische Krankheiten auslösen kann – von Schlafstörungen über Depressionen bis hin zu Manien.“
Laut Statistik Austria sind in Österreich knapp 20 Prozent der Arbeitnehmer in Schichtarbeit.
Grund genug, einmal genauer auf die gesundheitlichen Aspekte hinzuschauen: Angefangen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Adipositas bis hin zu Schlafstörungen und psychiatrischen Störungen. Wenn man mal eine Nacht durcharbeitet, wird das keinerlei Auswirkungen haben, aber wenn man über viele Jahre dieses zirkadianische System (die innere Uhr) irritiert, indem man in der Nacht ungewöhnlicherweise Licht zu sehen kriegt, dann führt das zu einer Art chronischem Jetlag. Zu den gesundheitlichen Problemen kommen auch die sozialen und zwischenmenschlichen Erschwernisse. Gesellschaftliche Teilhabe lässt sich nur schwierig gestalten. Natürlich gibt es auch Menschen, die mit Nachtarbeit sehr gut zurechtkommen. Nicht nur aufgrund der persönlichen inneren Uhr, sondern auch aus sozialen Gründen. Dies gilt insbesondere für jüngere, oft alleinstehende Personen.
Dennoch: Nachtschlaf ist immer gesünder als der Schlaf untertags, denn er entspricht dem inneren Tag-Nacht-Rhythmus.
Holzinger ergänzt: „An Forschungsergebnissen sieht man, wie kräfteraubend Schichtarbeit ist und dass die Menschen fast in einem Paralleluniversum leben. Es gibt natürlich auch Vorteile, viele genießen mehr Freiräume, aber man übersieht selber sehr gern, wie dieses umgekehrte Leben der Gesundheit schadet. Und zwar auf der ganzen Linie. Besonders schwierig ist es z. B. in der Pflege oder im Spitalsalltag, wo die Menschen unregelmäßig immer wieder zwischen Tag- und Nachtdienst hin und herwechseln müssen. Alles, was rhythmisch ist, ist hilfreich. Also etwa zwei Wochen durchgehend Nacht und dann zwei Wochen durchgehend Tagdienst. Schlaf ist trainingsaffin. Man kann sich nämlich auch an diese Umstellung gewöhnen, solange ein Rhythmus für den Körper erkennbar ist.“
„Im Bereich der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) kennt man die innere Organuhr, was ist das genau?“, interessiert sich der Gastgeber.
Lazar: „In der TCM gibt es eigentlich zwei Systeme, die einer Uhr entsprechen – das eine ist eben die Organuhr, das andere Yin und Yang. Erstere besagt, dass jedes Organ eine Maximalzeit hat, wo es am leistungsfähigsten ist. Das beginnt etwa um drei Uhr früh mit der Lunge. Zwölf Stunden später ist dann die Minimalzeit dieses Organs, also jene Zeit, in der es am wenigsten arbeitet. Angewendet wird das von mir vor allem in der Ernährung. Der Magen etwa hat seine Maximalzeit von 7–9 Uhr Früh. Wir alle kennen die Empfehlung eines möglichst ausgiebigen Frühstücks. Während der Magen zwölf Stunden später, also um sieben Uhr abends, seine Minimalzeit hat – was bedeutet, am Abend zu essen ist für den Magen eine Belastung. Inzwischen unterstützt das auch die Schulmedizin, die selbst weiß, dass die Verdauungsenzyme in der Früh viel mehr ausgeschüttet werden als abends. Man erkennt immer mehr Übereinstimmungen mit der TCM. Und das zweite System, das passt mehr zu diesem Tag-Nacht-Rhythmus, das System des Yin und Yang. Tagsüber ist die Yang-Zeit, die aktive Zeit, und Yin steht mehr für Erholung, Regeneration und Substanzaufbau. In der Nacht ist die Zeit des Yins. Das heißt, so wie wir es eigentlich auch in der westlichen Medizin sagen: Wir sollten tagsüber aktiv sein, dafür ist unser Körper auch ausgelegt, und in der Nacht sollen wir ruhen und erholen und schlafen. Yang hat seinen Höhepunkt mittags um zwölf Uhr und Yin um Mitternacht. Die Kurven sinken langsam ab und steigen langsam an, gehen ineinander über und ergänzen einander.“
„Was empfehlen Sie nun Menschen mit Wechselschicht?“ hakt Meryn nach.
Lazar: „Das Wichtigste ist ausreichend Schlaf. Menschen im Schichtbetrieb neigen ja dazu, zu versuchen, trotzdem noch viel vom Tag zu haben. Die meisten schlafen dann nur ein paar Stunden. Das ist eigentlich nicht nur ein Problem der Schichtarbeiter. Die meisten Menschen versuchen, viel zu viel an einem Tag unterzubringen. Ich denke, man muss ein bisschen lernen, Prioritäten zu setzen.“
Stichwort Tagesbeginn: „Gefühlt alle fünf Jahre kommt sie wieder, dieselbe Diskussion mit der gleichen Ergebnislosigkeit, wo man meint, für Kinder und Jugendliche sollte man den Schulbeginn etwas nach hinten setzen, weil gerade diese Gruppe erst später in Schwung kommt“, weiß Meryn. „Würden Sie das unterschreiben?“
Winkler-Pjrek: „In der Früh hat das sicher Vorteile, wenn die Kinder ausgeschlafener sind, aber wo ich mir nicht n ist, wenn die Schule dann am Nachmittag so lange geht. Gerade im Winter, wenn es so früh dunkel wird, könnten die Kinder dann gar nichts mehr draußen machen, wenn noch Licht ist.“
Holzinger ergänzt: „In Kalifornien und Deutschland hat man mit Experimenten begonnen, die Schulzeit etwas später beginnen zu lassen. In Kalifornien um eine halbe Stunde und in Deutschland um eine Stunde. Die Erfolge sind überwältigend. Gemessen an Leistung, Schulnoten und auch an Mobbing.“ Etwas ähnlich verhält es sich beim Thema Zeitumstellung – für Meryn „in Wahrheit aus wirtschaftlichen Gründen eingeführt und nicht, um den Menschen Gutes zu tun. Wenn ich richtig informiert bin, gibt es in den Phasen der Umstellung bedauerliche Dinge wie eine Häufung von u.a. Herzinfarkten. Was beobachten Sie in der Schulmedizin?“
Winkler-Pjrek: „Bei Patienten mit Depressionen ist es interessant zu sehen, dass vor allem die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit Schwierigkeiten macht. Denen geht es dann oft mit einem Ruck nach der Zeitumstellung schlechter. Als Grund geben die meisten an, dass es mit einem Schlag eine Stunde früher finster wird und sie das Gefühl haben, am Nachmittag gar nichts mehr machen zu können. Gerade Bewegung im Freien ist für die Psyche so wichtig. Das Schlafhormon Melatonin ist untertags bei Tageslicht ja niedrig und steigt am Abend, wenn es finster wird, an: Damit wir gut einschlafen können. Das steigt dann früher, weshalb man am Abend eher keinen Sport mehr machen will.“ Interessant ist auch, dass selbst das Herkunftsland Auswirkungen auf den individuellen Lichtbedarf haben kann.
Winkler-Pjrek: „Vor 15 Jahren haben wir Studien zu diesem Thema gemacht und gesehen, dass wir depressive Patienten mit einem deutlichen Überhang mit Geburtsdaten in den Sommermonaten haben. Es scheint so zu sein, dass der Säugling, wenn er in den ersten Lebenswochen mehr Licht ausgesetzt ist, dann quasi so die innere Uhr eingestellt hat, dass man immer einen höheren Bedarf an Licht hat. Das zeigt sich auch an Menschen aus südlichen Ländern, dass die eben noch viel eher unter diesem Lichtmangel im Winter leiden. Das Geheimnis der Lichttherapie ist das Melatonin. Auch Medikamente gegen Jetlag enthalten es. Die Idee ist eigentlich, dass man Licht in der Früh gibt, weil man aus Studien mit gesunden Menschen weiß, dass sie schon um sieben in der Früh, wenn sie aufstehen sollen, einen relativ niedrigen Melatoninspiegel haben und dann gut wach werden. Menschen, die sich schwertun mit dem Auf-wachen, haben noch immer einen sehr hohen. Das Licht soll hier mittels Verbindung von der Netzhaut ins Zwischenhirn, wo quasi das Licht transportiert wird und dort die Melatonin-Freisetzung stoppt. Die Empfehlung liegt bei einer halben Stunde bis zu zwei Stunden am Tag, wie man eben Zeit hat, morgens anzuwenden. Durch eine regelmäßige Anwendung kann man die innere Uhr wieder in den richtigen Rhythmus bringen. Aber einen synchronisierenden, bleibenden Effekt bewirkt sie auch nicht. Also bei richtigen Depressionen muss man sie wirklich täglich machen.“
„Welche Tipps würden Sie den Menschen da draußen geben?“,
schließt Meryn das gesunde Gespräch. Lazar: „Ich würde ihnen raten, auf manches zu verzichten, was den Tag zu lange macht und auf eine gute Schlafhygiene zu achten.“ Holzinger: „Wir leben alle mit unserer inneren Uhr und man kann sie ein bisschen spüren lernen. Ich würde alle er-muntern, das zu versuchen, denn es lohnt sich, wenn man im Takt bleibt. Das heißt, meistens zur selben Uhrzeit schlafen geht und aufsteht und dafür etwa 7–8 Stunden Schlaf einplant.“
Winkler-Pjrek: „Schlaf ist unheimlich wichtig, aber man sollte sich erst nieder-legen, wenn man wirklich müde ist. Das ist ein Problem vieler Patienten. Lieber versuchen, noch zu lesen oder fernzusehen, aber sich außerhalb des Bettes zu befinden und sich wirklich erst, wenn man müde ist, niederlegen. Selbst wenn man dann einen Tag müder ist, das renkt sich schon wieder ein.“